Rezension

Das Internet, das aus der Hölle kam und die Gesellschaft zerstörte

Schlecky Silbersteins neuestes Buch folgt strukturell der Aufmerksamkeitsökonomie eines durchschnittlichen mitteleuropäischen Publikums. Ich folge nicht dem Pfad der Aufmerksamkeit, sondern mache mich mit dieser Rezension auf die Erkundungsreise  inhaltlicher Schwerpunkte. Mit Euch werde ich von Schwerpunkt zu Schwerpunkt wie von einer Insel zu nächsten reisen. Die Inseln haben Die Namen: 1) Der Angstmacher 2) die Filterblase der Mutter 3) das Medium will uns und 4) Generation Selber Schuld. Zu den vier Schwerpunkten demänchst mehr, ich widme mich heute einmal dem Titel:

Das Internet muss weg.

Ja, das ist ja mal eine realistische Forderung. Kleiner Spoiler: So radikal meint er es auch nicht. Es geht um das Social-Media-Internet und seine anti-sozialen Dynamiken, die weg müssen – nicht das ganze Internet. „Das Internet muss weg“ ist eine provokante Maximalforderung im Gelb-Schwarz-Format mit Attention-Getting-Faktor. Oder versucht Silberstein die „Internet für Dummies“-Ästhetik wieder zu geben? Es hat eine gewisse Ironie, das Haschen nach Aufmerksamkeit zu kritisieren, aber sich selbst Aufmerksamkeit für seine Kritik verschaffen zu müssen. Ich sage mit Absicht „müssen“: Jeder Autor will gelesen werden, das ist ihm nicht zu verübeln. Übrigens ist auch der Stil so, dass er das Publikum bei der Stange hält:

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Oha, wie hoch ist der Happy End-Faktor wohl bei so einem Buch? – Mein Leseerlebnis (Foto: Privat)

Viele Bilder (oft Screenshots aus dem bösen Internet), übersichtlich portionierte Textteile, viele Überschriften, persönliche Botschaften. Wenn ich firmer wäre in Self-Marketing könnte ich Euch sicher noch fünf weitere Merkmale nennen, die das Buch par-excellence erfüllt. Ah ja, dass Herr
Silberstein Blogger ist, wissen wir spätestens ab der ersten Seite. Ja gut, Blogger wollen ja schließlich auch Geld verdienen.
Meine Leseerwartung war zu Anfang: Hoffentlich gibt es doch noch ein Happy-End für das Internet. Ich mag das Internet. Die Chance, mit interessanten, netten, schrägen, lustigen Leuten auf der ganzen Welt vernetzt zu werden, ist ein immenser Reiz. Natürlich fiebern wir von Anfang an also der Rettung am Ende entgegen. Wird das Internet doch noch wach geküsst? Muss es vorher 100 Jahre Dornröschen-Schlaf halten? Wird die Rache der Nazi-Trolle das Internet für alle Ewigkeiten unbrauchbar machen? Diese und noch viele weitere spannende Fragen beantworte ich Euch mithilfe von Silbersteins Buch. Mit jedem Teil führe ich Euch durch meine Lesestationen: Der Angstmacher, die Filterblase der Mutter, das Medium will uns und Generation Selber Schuld.

Am Ende werden wir ja sehen, ob wir Schuld an dem Mist sind!

Damit endet das Buch nämlich: Der Aufgabe, sich selbst verantwortlich zum Internet zu verhalten. Die Forderung wird gesamtgesellschaftlich und generationenfixiert angewendet: Sind wir selber Schuld am Internet-Abgrund? Weil wir uns manipulieren lassen und süchtig werden? Muss das Internet weg? Und ich ergänze die Frage: – oder das Self-Blaming? Ich habe eine klare Antwort für Euch! Dieses und viel mehr erwartet Euch in den weiteren Teilen der Internetsaga.

Bis demnächst. Eure Anti.

Hier geht’s gleich weiter mit Teil II der Internetsaga aka Rezension zu „Das Internet muss weg“: Der Angstmacher: Das Internet führt zu Krieg

Rezension

Generation: Selber Schuld

Blogger Schlecky Silberstein fordert mit seinem neuen Buch: „Das Internet muss weg“. Es zerstört die Gesellschaft und das Individuum. Schlimmer noch: Wir seien selbst Schuld daran. Gehen wir dieser Analyse auf den Grund. 

Es ist immer leichter, etwas zu kritisieren als eine Zukunftsvision zu formulieren. Silberstein ist ein Blogger und kein Martin Luther King. Aber ein Traum bedarf einer scharfen Sicht auf die Gegenwart. Wenn Silberstein schon keinen Traum hat – Liefert Silberstein wenigstens eine scharfe Sicht auf die Gegenwart?

Die Analysen sind gut, Silberstein erklärt uns unterhaltsam, was das Internet mit uns macht und warum: Es will Geld verdienen. Diese marktwirtschaftlichen Interessen führt er besser und versierter auf als ich es je könnte. Lesen Sie hierzu die Kapitel über Bannerwerbung, bezahlte Fake News aus fernen Ländern und so weiter. Man fragt sich doch, wenn es bei Zeitschriften-Portalen eh nur Hate-Comments gibt – warum löschen die das nicht? Antwort: Wegen des Google-Rankings: Je mehr Stichwörter auf der Seite einschlägig sind, desto besser kann die Seite ergoogelt werden, ergo mehr Klicks, ergo mehr Geld für Werbung. Mit Hate-Posts lässt sich also bares Geld verdienen.

Wer glaubt, Hate-Posts seien ein „Kollateralschaden“, ein Unfall des Internets: Das stimmt sie nicht, sie sind Attention-Getter, sie haben ihren festen Platz.

Silberstein hat keinen Traum

und seine Gegenwart hängt schief. Jetzt kommen wir zu meinem Problem mit den letzten Seiten des Buches: Ich finde nicht, dass Individuen zu kritisieren sind. Unsere Online Probleme sind struktureller Art. Natürlich müssen wir alle individuell unser Leben meistern. Aber wir müssen nicht nur uns verändern, wir müssen die Welt verändern.

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My Generation?

Silberstein zeichnet die Generation Z als Versager*innen. Hochnervöse Individuen, die von zu viel Social-Media-Gebrauch geschädigt sind und für den Arbeitsmarkt von einem geringen Wert. Selbstüberschätzung und mangelnde Produktivität wird diagnostiziert. Da kann jetzt jede*r für sich überlegen, was er oder sie davon hält. Ich denke, dass die gesellschaftliche Analyse hier zu kurz greift. Unsere Generation will etwas: Eine bessere Welt und wir sind hoch qualifiziert, höher als dies je zuvor der Fall war, wenn man Abitur- und Hochschulabschlüsse betrachtet. Aber haben wir denn überhaupt Platz für diese Generation? Gibt es überhaupt genug Jobs, in den Bereichen, in denen junge Leute arbeiten wollen? Wir sind die Generation, der man sagte: Du kannst alles sein. Soziologie und Skandinavistik zu studieren, sei aber eine brotlose Kunst. Und ohne Abitur geht ja heute schon eh nichts mehr, sagen sie – eine Lehre beginnen, das sei verrückt.

Also machen wir das fünfte Praktikum und das vierte Volontariat und merken: Von einem befristeten Vertrag zum nächsten lernt man vor allem eins: Deutschland kennen. Denn absolute Mobilität und Flexibilität sind ja vorausgesetzt. Wir sind die Generation, der man sagte: Bleib dir selbst treu und sag deine Meinung. Wer sich selbst treu bleibt, erreicht am Ende alles. Ich weiß ja nicht, wann dieser Satz je stimmte, aber heute sicher nicht. Voran kommst du eher, wenn du mit den etablierten konservativen Eliten kuschelst – und sei es nur auf irgendeine merkwürdige postironische „Ich-feiere-die-Anzugtypen“- Nummer.

Links sein ist out. Idealismus ist out.

Pech gehabt for me?

Ich bin nämlich linke Idealistin. Und wer sitzt auf unseren Jobs? Leute, die zu gerne in Frührente gehen würden, denen gesagt wird, die Rente mit 69 kommt. Leute, die Überstunden machen, und keine Zeit für ihre Familien haben. Leute, die kurz vor dem Burnout stehen. Nichts gegen die, die gerne arbeiten! Aber: Wie kann es bitteschön sein, dass die eine Hälfte der Bevölkerung völlig überarbeitet ist und kurz vor dem Burnout steht – während die andere Hälfte gefühlt einfach keinen Job bekommt. Die Arbeitslosenzahlen sind viel höher, wenn sie nicht geschönt werden würden.

Am Ende sind wir vor allem eins: Generation selber schuld.

Dass Silberstein zu diesem Schluss kommt, ist schade. Marktwirtschaftliche Interessen gibt es nicht nur im Internet, sie codieren unser ganzes Sozialverhalten, die Politik, den Journalismus, in einer Weise, die ich mir nicht ausmalen kann. Früher gab es gute Jobs, früher gab es starke Gewerkschaften, es gab Urlaub und Weihnachtsgeld. Früher war nicht alles besser. Aber anders. Manches ist verloren und wird nie wieder so sein. Müssen wir uns an Sozialabbau und befristete Verträge gewöhnen? Ich weiß es nicht. Ich hoffe nicht.

Denn eins können wir ganz sicher tun: Uns nicht selbst die Schuld geben, uns verdammt nochmal nicht verunsichern lassen! Vielleicht das Internet etwas bewusster nutzen, aber vor allem: Eine gute Welt erschaffen, in dem wir diese gute Welt sind. Ich bin nicht Schuld und das lasse ich mir auch nicht einreden.

Und damit verabschiede ich mich erst einmal von Silberstein.
Eure hoffende Anti. ♥

Postskriptum

Inklusive Sprache sucht man leider vergeblich in dem Buch. Macht das einen Einsatz für Gleichberechtigung zwischen unterschiedlichen Menschen glaubwürdig? Ich weiß es nicht. Ganz persönlich: Ich werde ungerne Nutzer genannt. Ich bin eine Nutzerin. Ich heiße auch nicht Paul.

Dies ist das Ende meiner Internet-Saga. Den Anfang gibt es hier nachzulesen:
Das Internet, das aus der Hölle kam und die Gesellschaft zerstörte

Rezension

Geh‘ raus aus meinem Kopf, du Internet, du!

Was sind Beiträge, die niemand liked? – Fails. Genau. Beziehungsweise: Nieten. Wir haben etwas zu geben: Eine Information über uns. Diese besteht aus einer Ich-Aussage, einem Gefühl, einem Erlebnis, möglicherweise auch nur aus Datum und Standortabfrage.

Smartphones sind kleine Spielautomaten. Die Münze dabei eine Dateneingabe infolge eines Interaktionsanreizes.“ (Silberstein. Das Internet muss weg. 19).

Alle Daten sind Geld wert im Social Media. Wir setzen diese Information ein: Wie eine kleine Münze rutscht sie uns von den Fingern und gleitet ein in den großen Automaten des Internets.

Wie dieser Automat funktioniert? Keine Ahnung. Kein Social Media-Dienst hat bisher seinen Algorithmus offengelegt. Niemand weiß, wie Priorisierungen und Hauptmeldungen erzeugt werden. Irgendwas landet ob und irgendetwas unten. Was mehr geteilt und geliked wird, landet tendenziell weiter oben. So viel ist sicher. Ein Like, ein Retweet – das sind Belohnungen für uns. Wer könnte sich frei davon machen, sich über einen Like zu freuen? Interessant dabei ist: Wir kennen die Interaktion vorher nicht. Wir sehen eine Zahl, die blinkt. 1, 2, 3 neuen Meldungen. Hui, ich bin gefragt. Also checken wir das Smartphone. Vielleicht ist nur eine der drei Meldungen interessant, vielleicht keine. Zu widerstehen, zu checken, um was für eine Meldung es sich handelt, ist schwierig.

Wenn Sie morgens als Erstes auf Ihr Smartphone schauen, wurden sie gehackt. Wenn Sie in der Kneipe sitzen und zum Smartphonechecken auf die Toilette gehen, wurden Sie gehackt. Wenn Sie es nicht schaffen, Ihr Smartphone 15 Minuten nach dem Vibrieren nicht anzurühren, wurden Sie gehakt. (Silberstein. Das Internet muss weg. 19).

Klingt gar nicht so toll, gehackt worden zu sein. Ich stelle mir das so vor: Der Algorithmus läuft in meinem Kopf weiter. Er verändert die Art, wie und was ich poste, aber auch, wie ich denke: Weil ich über den Tag überlege, was ich posten könnte. Eine besonders intellektuelle Pointe finden, Wortwitz, Charme… da muss man auch mal überlegen. Und schon ist das Programm, das in meinem Kopf abläuft vor allem eins: Social Media.

Es macht uns: süchtig. Wenn wir anfangen, Handlungen nach der Sucht auszulegen und unseren Tagesablauf um die Erhaltung der Sucht herum zu planen, sind wir süchtig. Ausflüchte suchen, um Nachrichten und Meldungen zu checken, kennt jede*r. Eine „Verarschungsmaschine“ ist das. Weil wir denken, wir würden die Maschine kontrollieren, sie bedienen. Doch wer denkt, in der Maschine würde einfach nur unten heraus kommen, was wir oben herein tun, irrt gewaltig. Die Maschine lernt, sie verändert uns und sie speist ihr Programm in unser Gehirn ein. Klingt wie Assimilieren bei den Borg. Und ähnlich geht es mir auch dabei.

Raus aus meinem Kopf!, denke ich.

Geht das? Ich meine, Digital Detox ist schon eine gute Idee: Mal ein paar Tage oder Wochen auf das Internet verzichten. Eine Dauerlösung ist das nicht. Ich möchte das Internet nutzen, aber eben auf meine Weise, auf eine Weise, die mir gut tut. Ich bin mir nicht sicher, wie das geht. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich ändern muss: Klar, Selbstoptimierung bin ich immer dabei. Ich will mich auch nicht als Apostelin des geringeren Internetkonsums aufspielen; das ist doch irgendwie altbacken und kulturpessimistisch.

Daher eine andere Perspektive: Muss sich nicht stückweit das Internet ändern? Ich will ein öffentliches, freies, demokratisches Internet, keines, das nur die Gewinnmaximierung befördert und deswegen auf Teufel komm raus manipuliert und nur Alarm und bling, bling vor meinen Augen produziert. Ich will mich konstruktiv mit Menschen weltweit austauschen und Visionen basteln – nicht das Gefühl haben auf der letzten Bastion Freiheit zu stehen und von allen Seiten gegen Hateposts anschreien zu müssen, die nur lauter werden, je lauter ich schreie. Zurückschreien ist ein starker Anreiz, im Internet aktiv zu werden, aber kein guter. Es geht das eigene Anliegen, die eigene Vision verloren.

Ich fände es gut, wenn wir alle darüber nachdenken würden, was für ein Internet wir haben wollen. Lasst es mich wissen. Ich bin gespannt!

Eure, heute mal neugierige Anti

PS: Beim nächsten Mal werden wir sehen, warum Self-Blaming und Generationen-Bashing in Bezug auf das Internet keine Lösung ist.

Dies ist Teil III der Internetsaga aka Rezension zu „Das Internet muss weg“. Vielleicht sind für Dich auch Teil I-II interessant? Das Internet, das aus der Hölle kam und die Gesellschaft zerstörte und Der Angstmacher: Das Internet führt zu Krieg

Rezension

Der Angstmacher: Das Internet führt zu Krieg

Steile These am Anfang, Aufschlag Silberstein: Wenn nach der Erschaffung der Druckerpresse der 30-jährige Krieg folgte, um die konfessionelle Frage zu „klären“- Was kommt nach der Erschaffung des Internets, um die humanitäre Frage zu „klären“? Die kleine Prise Angst muss sein. Wir erinnern uns: Angst und andere negative Emotionen halten uns bei der Stange. Das weiß auch ein Silberstein. Na, schon Angst vor dem 3. Weltkrieg? Also ich schon – ein bisschen, ich geb’s zu.

Interessant sind dann sicherlich die zu Grunde liegenden Analysen, denn hier hat Silberstein Expertenwissen anzubieten: Das Internet macht uns wütend. Mit Absicht.

„So werden nüchterne oder differenzierte Haltungen von Algorithmen gefiltert, die nur für eine Aufgabe programmiert wurden: den Interaktionsgrad zu erhöhen. Leider sorgen negative Emotionen für mehr Interaktion als positive Aktionen.“ (Silberstein. Das Internet muss weg. 17)

Social Media hat ein Eigeninteresse, uns zu einer möglichst langen Verweildauer zu bewegen. Ein hitziges Wortgefecht werden wir kaum unterbrechen. Beleidigungen muss man widersprechen. Die falsche Weltsicht korrigieren, bevor alles den Bach runtergeht. Oft nehmen wir uns selbst zu wichtig, wenn wir denken, unser „Entgegenhalten“ würde die Welt besser machen. Oft erzeugt es eben nur eins: Den Troll oder den Hater besser und stärker zumachen. Er bekommt die Aufmerksamkeit von seinen Follower*innen, die von vornherein sein Ziel war. Noch schlimmer: Wir füttern die Aufmerksamkeitsökonomie. Wir unterstützen ein System, in dem Hass gefördert wird. Twitter und Facebook haben kein Interesse alle Hate-Beiträge zu löschen. Zu denken, Social Media wäre einfach nur zu langsam, Hate-Posts zu löschen, ist naiv. Es geht um eine Geschäftsmodell: Sie leben von den Konflikten sowie diejeniegen, die Waffen exportieren, vom Krieg leben.

Dass ein Krieg losbrechen könnte: Ja. Einige setzen dem Hass etwas entgegen, andere ignorieren ihn, andere saugen ihn auf und radikalisieren sich. Man möchte sagen: Social Media ist wie ein flacher Stein in unserer Hand, ein Handschmeichler und er will geworfen werden. Das Problem ist: Er kann in jede Richtung geworfen werden. Jemand, der Hass sehen will, bekommt Hass angezeigt. Je wütender die Posts, desto mehr Aufmerksamkeit – von Leuten, die dem Hass etwas entgegensetzen wollen. Natürlich will ich Euch nicht mit so einer düsteren Aussicht entlassen. Es gibt Lösungen: Don’t feed the Troll. Ja, das scheint mir auch eine gute Möglichkeit. Sich nicht zu sehr auf die Trolle und Hater konzentrieren, ihnen nicht die süße Aufmerksamkeit geben. In der eigenen flauschigen Filterblase bleiben und Leuten Aufmerksamkeit geben, die es verdient haben. Aber ist der Rückzug in die eigene Filterblase wirklich die Lösung?

Teil drei meiner Internetsaga setzt sich mit den Konsequenzen, die das haben würde, auseinander. Heute entlasse ich Euch wenigstens mit der Hoffnung, dass das Internet aus dem besteht, was wir posten. Social Media sortiert es nach Algorithmen, die wir nicht kennen. Aber wir wissen: Je mehr Positives wir posten, desto mehr Positives steht zur Auswahl, um angezeigt zu werden. Je mehr wir Positives liken, desto mehr Aufmerksamkeit geben wir dem Positiven. Vielleicht war es noch nie so wichtig, positiv zu sein und an eine gute Zukunft zu glauben. Glaubt mit mir an die Utopie und Stück für Stück können wir eine neue Wirklichkeit bauen. Remember: Naiv ist das neue cool.

Hoffend. Eure Anti

Dies ist Teil II der Internetsaga aka Rezension über „Das Internet muss weg“. Für Teil 1 siehe: Das Internet, das aus der Hölle kam und die Gesellschaft zerstörte

 

Kommentar

Alle bleiben, wo sie sind – wäre das eine schöne Welt? Wäre sie nicht.

Schöne Welt? Da, wo man geboren wurde, dort bleibt man sein Leben lang. Es setzt voraus, dass es schön ist, wo man geboren wurde. Auf Länder, die von Kolonialmächten ausgebeutet wurden und, die noch immer systematisch wirtschaftlich ausgebeutet werden, trifft das nicht zu. Vielen ist das mittlerweile egal. Daher stelle ich die Frage: Wäre die Festung Europa eine schöne Welt – für Europäer*innen?

 

Da verwechselt ein bekannter FDP-Politiker Norm mit Defizit. Nein, es gibt kein Recht, sich seinen Wohnort auf der Welt auszusuchen. Und das ist das Problem! Alle, die einmal versucht haben, in einer Großstadt eine Wohnung zu finden, kennen das. Während in Dörfern Wohnung und Lebensführung erschwinglich sind, ist das in Großstädten nicht der Fall. Für Leute, die nur Mindestlohn verdienen, ist ein Leben in München, Hamburg oder Frankfurt, eine algebraische Zaubertat. Aber irgendwer muss ja arm sein, oder? Es gibt lebenswertere Regionen auf der Erde und nicht so tolle – irgendwer muss ja auch in den nicht so tollen leben. Das haben die verdient: Diese unzivilisierten Völker.

Wer so denkt, ist zynisch. Denn diese Stammtischmeinung hat zwei Dimensionen. Erstens, ist die Armut in anderen Teilen der Welt für uns wirtschaftlich von Vorteil, von westlichen Ländern also nicht nur erzeugt, sondern auch bewusst aufrecht erhalten. Zweitens, müssen wir uns gar nicht als Anti-Imperialist*innen und Eurozentrismus-Kritiker*innen aufspielen. Wenn wir nicht glauben, dass Menschen anderer Länder Menschenrechte verdient haben, sind wir menschenverachtend und unzivilisiert. Menschenrechte kann es nur universal geben und nicht partikular. Wenn ich nur mir und meinen Leuten Menschenrechte zuerkenne, heißt das, ich erkenne nicht an, dass andere auch Menschen sind und qua Menschsein Rechte besitzen.

Das ist mehr als Rassismus; das ist unverhohlener Menschenhass.

Ich frage mich immer, warum jemand in so einer Gesellschaft leben wollte. Wir sind dabei, die Welt in ein Apardheitsregime zu verwandeln: Eine große Festung in der Mitte, auf dem Berg und rimgsherum säumen sich die Slums. Den Burggraben nicht zu vergessen. Ist das eine Welt, in der man sich ernsthaft wohl fühlt? Also, ich weiß ja nicht… mir sagte mal jemand, ich solle nicht in eine Großstadt ziehen. Nicht wegen der Mieten. Sondern wegen der Armut anderer, die ich dann sehen müsste. Aber das ist kleinkindisch: Sich die Hände vor die Augen halten und glauben, man selbst würde nicht mehr gesehen. Armut gibt es. Ob wir hinsehen oder nicht. Die Leute sterben und verhungern. Und da sag nochmal einer euphemistisch, das seien „Wirtschaftsflüchtlinge“. Leute, die dieses Wort benutzen, sind nicht besser als die Königin, die ihren Untertanen Kuchen statt Brot empfahl. Denn: es geht nicht darum, ob die Geflüchteten daheim sich keinen Pool im Garten leisten konnten – sie sind geflohen vor dem Hungertod, aus Landschaften, die klimawandelbedingt tot vor Dürre sind, aus von Krieg zerstörten Städten: Erst kam der Krieg, dann der Hunger.

Selbst das Alte Testament, das vor tausenden von Jahren geschrieben wurde, kennt im Falle von Hungertod ein Asylrecht. Weil es hier um das nackte Überleben geht und nicht um ein bisschen mehr Luxus.

Menschenrechte sind kein Luxus. Überleben ist kein Luxus.

Die besonders zynischen wollen dann Deutschland vor fremdländischen Einflüssen schützen: Die würden Frauenhass und Antisemitismus mitbringen. Also müssen wir unsere Menschenrechte wie kleine Schätze vor den bösen, anderen Menschen schützen. Aber dadurch partikularisieren wir diese Rechte und Werte. Wir regionalisieren sie. Ich glaube nicht, dass es Freiheit und Wahrheit partikular geben kann. Das Absprechen der Freiheit und der Rechte eines anderen, macht mich zu derjenigen, die diese Werte leugnet. Wenn wir Menschenrechte schützen wollen, dann für alle. Das soll keine Maximalforderung werden. Ach nein? Ist meine Argumentation unrealistisch? Es wäre schlichtweg unmöglich, jeden Geflüchteten aufzunehmen, sagen sie.

Mal davon abgesehen, dass „alle“ gar nicht „hierher“ wollen. Es ist ein Machbarkeitsargument, rein pragmatisch. Es wäre ein Sein-Sollen-Fehlschluss dabei zu verharren. Wie können wir denn eine gerechtere Welt schaffen? Wie können wir Rassentrennung und Armut abbauen?

Wie kann Multi-Kulti, Zusammenleben und Mobilität für alle gelingen? Wer sich diese Fragen nicht ernsthaft stellt, hat kein Recht, über Geflüchtete zu urteilen.

Und klar: Die bringen andere Werte und Vorstellungen von der Welt mit. Übrigens auch nicht einheitlich, sondern auch individuell und kulturell vorgeprägt. Es ist ja nicht so, als gäbe es den Geflüchteten oder die Geflüchtete. Wir müssen über unsere Überzeugung reden und uns dem Diskurs stellen. Natürlich gilt es, Antisemitismus zu bekämpfen und hundertprozentig verteidige ich Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau. Dass diese Werten in westlichen Zivilisationen auch nicht immer zum Besten liegen, nur am Rande. Unsere Werte sind aber eben auch nicht besonders überzeugend, wenn wir selbst nicht danach handeln. Wenn wir nicht als demokratisch-freiheitlicher Staat auf die Geflüchteten reagieren, dann brauchen wir uns nicht zu wundern, dass Demokratie auf Dauer über all auf der Welt unattraktiver wird. Die negativen Vibes unserer westlichen Wohlfühlarea einfach zurück nach Afrika zu schicken, ist keine Lösung. Früher konnte man Strafgefangene nach Australien auslagern.

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Theatrum Orbis Terrarum (wischen 1571 und 1584) – Abraham Ortelius

War‘ ne tolle Lösung. Aber die Welt ist zu klein dafür. Zumal die dann auch noch so einen Staat gegründet haben und so. Oder wollen wir anfangen, alle, die sich antisemitisch äußern, auslagern? Vielleicht auf den Mond schießen, habe gehört, da ist noch was frei. Wir können doch nicht so tun, als würde man seine Menschenrechte verlieren, weil man eine dumme Meinung hat. Und na klar, Antisemitismus und die Ansicht, Frauen wären minderwertig – das ist total dumm. Das gilt es zu benennen und zu bekämpfen. Aber mit Worten und nicht mit Ausreiseanträgen.

Oder sind wir selbst nicht genug überzeugt von unseren Werten, dass wir nicht darüber reden? Oder wollen wir unsere wirtschaftlichen Interessen am anderen Ende der Welt schützen? Denn wenn die auch noch Rechte hätten, kämen die ja vielleicht auf die Idee, ein menschenwürdiges Leben führen zu wollen. Schrecklich, haben die gar nicht verdient. Man entschuldige meine Ironie… ich versuche nur diesen unverhohlenen, elenden, zynischen Menschenhass greifbar zu machen und zu verstehen. Und ich verstehe es nicht.

Ich verstehe auch nicht, wie jemand in einer Welt leben können will, in der nicht alle gleichen Zugang zu Ressourcen haben. Wir wollen die Armut nicht sehen. Sie stört uns. Wenn sie weit genug weg ist, reicht unser Mitleid nicht mehr aus. Wir wollen unser eigenes Mitleid nicht spüren. Aber das lässt die Armut nicht verschwinden. Dieses dreckige, zahnlose, kranke Gesicht der Armut bleibt. Und wir können das verdrängen, aber wenn wir ehrlich sind: Irgendwie nervt es ja schon. Und es kommt näher. Es überwindet Grenzen und kommt in unser Land. Plötzlich müssen wir uns damit auseinandersetzen. Merken wir vielleicht jetzt erst, was wir angerichtet haben? In welchem Zustand wir den Großteil der Menschen auf der Welt aus neoliberalen, wirtschaftlichen Gründen belassen?

Es ist gut, dass uns das dreckige Gesicht der Armut stört.

Reden wir darüber, was geschehen muss, damit daraus ein sauberes, fröhliches Gesicht wird. Ich will in einer Welt leben, in der Menschen frei, selbstbestimmt und würdevoll sein können. Das ist für mich eine schöne Welt. Meine Freiheit ist nichts wert, solange andere unfrei sind. Würde als unantastbares Gut ist gefährdet, wenn andere in menschenunwürdigen Verhältnissen leben. Meine Rechte sind universale Rechte. Ich trete dafür ein. Auch wenn ich weiß, dass kulturalistisch gewendet, einige diese Rechte relativieren wollen. Aber solange ich davon überzeugt bin, dass eine Welt, in der Menschenrechte besser sind, als eine ohne Menschenrechte, werde ich dafür einstehen.

Das ist vielleicht besserwisserisch und eurozentrisch. Oder ich bin ein versiffter Gutmensch. Wenn ich anderen nicht zumute, über diese Welt nachzudenken, in der ich leben will, würde ich glauben, die Menschen seien es nicht wert, würdevoll zu leben und zu überleben. Dann würde ich glauben, sie hätten den Hungertod verdient. Und ich frage jeden und jede: Ist es wirklich schön in der Festung (Europa) wie in einer abgeriegelten und umzäunten Villa zu leben, die Tag und Nacht bewacht wird (Frontex), und von den Burgmauern auf die Menschen runter zu sehen, die sterben und ertrinken, weil sie die Burgmauern nicht empor klimmen können? Und sich dann aufregen, dass es keine sicheren Urlaubsorte mehr gibt? Und in ein paar Jahren die Verschärfung der militärischen Konflikte bejammern?

Diese Konflikte werde uns einholen, ich prophezeie es jedem und jeder, die heute für Abschottung und Nationalismus ist. Die Kriege, die heute am anderen Ende der Welt stattfinden, werden morgen vor unserer Haustür ausgetragen.

Oder werden sie das nicht schon? Terrorismus ist verwerflich und durch nichts zu entschuldigen! Er bringt den Krieg zurück nach Europa. Nicht dass wir daran, „Selbst Schuld“ wären. Es geht mir nicht um Schuld: Nicht einmal um die Kollektivschuld, die aus dem zweiten Weltkrieg abzuleiten wäre. Es geht mir um Verantwortung für eine gute Welt. Aus vergangenen Welten sollten wir lernen und ja, Deutschland hat eine schreckliche Geschichte, in der Größenwahn viel zu viele Leben gekostet hat. Es kann einem nur unendlich leid tun, wie viele Unschuldige gestorben sind. Deutschland hat eine geschichtliche Verantwortung. Globale Konflikte lassen sich nur global lösen und jedes Land hat eine Verantwortung – für eine bessere Welt.

Das gute Leben? Eine feste Burg ist mein Europa? Alle bleiben, wo sie sind. Man kann sich ja aussuchen, wo man sterben will: Im abgef*ckten Heimatland oder auf der Flucht. Wahlfreiheit bis in den Tod. Vielleicht ist ein ganz harter Zyniker, eine harte Zynikerin ja sogar froh, wenn Menschen sterben: Es gibt ja Überbevölkerung. Zu wenig Ressourcen. Manch eine*r wird da sozialdarwinistisch. Sterben von Geflüchteten dient der Abschreckung.

Hat also ein Kampf nicht nur um Ressourcen, sondern auch um Mobilität, Würde und Rechte begonnen? Ich für mich ganz persönlich weiß: Das ist nicht die Welt, in der ich leben will. Es gibt Rechte nur für alle oder für niemanden. Wenn es kein Recht gibt, sich den Standort auf der Welt auszusuchen, wer gibt den Afd-Wähler*innen, den neoliberalen Hätte-gern-Patriot*innen und den rechtsradikalen Blut- und Boden-Fetischist*innen das Recht, in Europa, in Deutschland zu leben? – Antwort: Niemand. Die Menschenrechts-Negierer*innen wollen ein Welte ohne Rechte für irgendwen. Sie kennen nur Privilegien. Und sie wissen nicht, dass sie ein Urteil nicht nur über andere, sondern auch über sich selbst sprechen: Sie wissen nicht, dass ihre Rechte als Menschen auch schützenswert sind, sie schaffen ihre eigenen Werte ab, sie schaffen sich als Mensch ab.

Wollen wir bei der Dystopie enden? Wenn wir die Wahl haben, eine Utopie oder eine Dystopie zu verwirklichen – warum im Namen von allem, was gut und heilig ist, entscheiden wir uns dafür, eine Dystopie zu manifestieren?

Eure Anti.